Bemerkungen zum Ödipuskomplex

Beim Studium der griechischen Mythologie machte ich die überraschende Entdeckung, dass der von S. Freud konzipierte Ödipuskomplex nur bei einem einzigen Helden auftaucht, nämlich jenem, der dem Komplex den Namen geliehen hat. Andere Konstellationen der Eltern-Kind-Beziehungen oder des Geschlechtskampfes häufen sich, wie z.B. Entthronungsängste der Väter, Mutter-Sohn-Heiraten und Nymphen, die Männern davonlaufen. Daher gewann ich den Verdacht, dass der Ödipuskomplex sogar weniger Allgemeingültigkeit besitzt als vielleicht andere weit häufiger geschilderte Komplexe der mythisch-psychologischen Szene. Oder man müsste sich zur Behauptung durchringen, dass die Infamität des ödipalen Verbrechens eine so kräftige Verdrängung auf den Plan gerufen habe, dass die eine Geschichte schon das Maß an Bewusstsein überschritten hat, das sich die Offenlegung der ödipalen Wünsche erlauben kann. Dem widerspricht jedoch die Häufigkeit und Intensität, mit der der Ödipusmythos bearbeitet worden ist: Allein als Drama beschäftigte der Stoff viermal Äschylos, zweimal Sophokles; als Heldenlied zeugen Fragmente “Ödipodie” und “Thebaias” für zwei weitere umfangreiche Ausführungen. Von den großen griechischen Epikern ist es allein Hesiod, der Ödipus nicht erwähnt. An der Faszination, mit der das Schicksal des Ödipus die Dichter ergriffen hat, besteht kein Zweifel, und ebenso wenig an der Freiheit, mit der sie den Inzest und den Vatermord sowohl anklagten als entschuldigten. Die Scheu, das Verbrechen bei Namen zu nennen, seine Beweggründe vielfältig fächernd aufzudecken und den dramatischen Chor die mannigfaltigen Meinungen gesunden und raffinierten Volksempfindens äußern zu lassen, besteht folglich nicht. Auch andere Verbrechen, wie z.B. der Mord an Klytaimnestra durch ihren Sohn Orest wird von den griechischen Dramatikern ohne Skrupel aufgegriffen. Jeder psychische Konflikt birgt so viel Raum an Übertragbarkeit dass er in die karthartische Form eines Dramas gekleidet werden kann und den Hörer zu fesseln vermag. Außerdem bemerken wir, wenn wir uns die fünf um die Ödipussage kreisenden Dramen genauer ansehen, dass sie sich mit jeweils anderen Teilaspekten der Familienchronik der Labdakaiden (nach Labdakos, dem Großvater väterlicherseits des Ödipus) beschäftigen, und es fällt nicht schwer, die Hauptanliegen ihrer Inhalte mit knappen Worten zu umreisen: Der eigentliche Ödipuskonflikt, der darin besteht, dass der Sohn die Mutter heiratet und den Vater tötet, wird tatsächlich nur in einem Drama behandelt, nämlich in Sophokles “König Ödipus”. Das Drama “Ödipus auf Kolonnos” desselbigen Dichters beinhaltet vor allem die Beziehung des alten Ödipus zu seinen Kindern, seinen Töchtern Antigone und Ismene, die er liebt und seinen Söhnen, Eteokles und Polyneikos, die er verflucht. Von Äschylos ist nur das Drama “Sieben gegen Theben” erhalten, das den Bruderzwist behandelt. Das den Titel “Laios” tragende Stück dürfte sich um die Auseinandersetzung des Königs Laios mit dem ihm gegebenen Orakel drehen, wonach er seinem Weibe nicht beischlafen soll, weil sie in einem Sohn seinen Mörder gebären würde.

Das spezifische Ödipusdrama wird also gar nicht überdurchschnittlich oft behandelt! Vielmehr erscheinen drei Generationen einer Familie, deren mittlere zentrale Figur Ödipus ist, verschiedene Konflikte von allgemeingültigem Interesse aufzuweisen, die zu jeweils verschiedenen Dramen erregenden Stoff geliefert haben. Es verhält sich dann mit dem Labdakaidengeschlecht ähnlich wie mit dem des Tantalos, wo gleichfalls mehrere Generationen von Tantalos zu Pelops und Niobe ergreifende Schicksale zur Schau tragen, die für poetische Darstellungen sehr geeignet sind, ohne dass sich ein gemeinsamer Nenner finden ließe. Noch eine andere berühmte mythische Generationsfolge wäre zu nennen, wo sich einerseits der Fluch vom Urahn auf vier Generationen erstreckt, andererseits eine jede ihre unvergleichbare Tragik durchzuleiden hat: Es handelt sich um die Familie Agamemnons, die, von Tantalos, über Pelops, Atreus, Agamemnon bis Orest reicht. Der Mord an Familienmitgliedern, z.B. von Vater zu Sohn, von Sohn zur Mutter usw. wird später noch eingehend behandelt. Es darf aber hier bereits als ein psychisches Phänomen hingestellt werden, das sich nicht unter einen Überbegriff von Ödipuskomplex subsumieren lässt.

Da nämlich in den griechischen Mythen der Mord unter Familienmitgliedern in jeder nur denkbaren Richtung wütet, wage ich die Frage aufzuwerfen, ob die bei Ödipus auftretende Vereinigung von Mutterheirat und Vatermord nicht auf einer Koinzidenz zweier verschiedener E1tern-Kind-Beziehungen beruht, welche letztere vom Wesen her nichts Gemeinsames haben. Die Mythen jedenfalls würden einer solchen Auffassung stichhaltige Gründe liefern:

1. Von allen Männern, die ihre Väter oder Großväter entmachteten, kastrierten oder töteten, gab es außer Ödipus keinen einzigen, der seine Mutter heiratete oder manifest zu lieben begehrte. Daraus geht hervor, dass der Wunsch, den Vater zu entmachten, aus Herrschaftsrivalität und nicht aus Liebesrivalität entsteht. Dass mit Herrschermacht auch die unbeschränkte Verfügungsgewalt über Frauen mitgegeben ist, kann nur als Begleitumstand gewertet werden, der aber nicht dahingehend ausgelegt werden darf, dass es ausgerechnet die eigene Mutter zu sein hat, auf die sich die sexuelle Eroberungsmacht stürzt. Im Ödipusdrama wird die Königin Jokaste als Preis für denjenigen ausgesetzt, der das Rätsel der Sphinx löst. Jokaste ist im Drama keinesfalls die Frau, um derentwillen Ödipus seinen Vater Laios tötet oder sich der Gefahr der Sphinx aussetzt. Herrschaftsgewinn und Preis in Form einer Prinzessin sind die in Märchen und Mythen oft versprochenen Entlohnungen des Helden, der Ungeheuer unschädlich macht oder tötet.

2. Die Mutter-Sohn-Heiraten sind uralte mythische Begebenheiten, bei denen ein Vater grundsätzlich nicht existiert und deren Bewertung außerhalb des Inzesttabus fällt. Die Mutter-Sohn-Heirat symbolisiert die Liebesvereinigung in einer Urform, die noch nicht mütterliche und sexuelle Liebe scheidet. Die Fortpflanzung erhält sich aus einem in ihr selbst gelegenen Schöpfungsprinzip, das keiner äußeren Zutat bedarf: Was die Urmutter gebiert, gereicht ihr selbst wieder zur Weitergeburt. Aus diesem Grunde sind Sohn und Gatte eins. Die Erwägung eines Inzests taucht in diesen Mythen nie auf.

3. Alle intendierten oder vollzogenen Morde, die Väter an ihren Söhnen vollstrecken, sind nicht aus Angst eines Inzestes zwischen Sohn und Mutter begangen worden, sondern ausschließlich wegen der durch den Sohn drohenden Entmachtungen.

Daraus ist zu schließen, dass die Angst vor der Entthronisierung ein weitaus häufigerer Vater-Sohn-Konflikt ist als der Inzest.

4. Der Mord der Väter an den Söhnen kommt häufiger vor als der der Söhne an die Väter. Damit verlagert sich die Aktivität, die nach dem klassischen Modell des Ödipuskomplexes auf Seiten des kleinen Knaben liegt, auf den Vater. In ihm scheint der erste Anstoß einer Aggressivität zu liegen, die fortan zwischen Vater und Sohn hin- und hergeschleudert wird.

5. Die Zahl der Mütter, die ihre Söhne töteten, beläuft sich nach einer Aufzählung Hygins (239) auf acht, während von solchen, die Blutschande mit ihren Söhnen trieben, nur Jokaste genannt ist. Mord an eigenen Kindern dürfte ein kaum geringeres Verbrechen sein als Blutschande. Beide könnte man als Extremvarianten der jeweils milderen Form der Aggression bzw. der Zuneigung sehen. Die griechischen Mythen beinhalten somit zwei Arten affektiver Beziehungen der Mutter zu ihren Kindern. Wenn man der einen Seite, nämlich der Zuneigung, solch einen Wert beimisst, dass man deren Äußerungsform grundsätzlich als versteckten Inzestwunsch deutet, müsste man der anderen grundsätzlich den Mordwunsch unterschieben, so dass entweder der Mordwunsch als ebenso fundamental wie der Inzestwunsch zu betrachten ist, oder beide weniger gewichtige Bedeutung haben. Sie stellen Beziehungsmöglichkeiten, aber eben nicht Beziehungsnotwendigkeiten dar. Dabei gilt noch zu beachten, dass wiederum die Aktivität von der Mutter ausgeht, nicht vom dem Kind, geschweige denn vom Kleinkind. Aus dem Ödipusdrama ist übrigens nicht zu entnehmen, wer den Inzestwunsch hegt, denn weder wünscht Ödipus, Jokaste als Frau zu gewinnen, noch diese, Ödipus zum Manne zu nehmen. Vielmehr ist es eine dritte Person, nämlich Kreon, der Bruder Jokastes, der die Eheverbindung durch die Preisausschreibung setzt. Genau genommen, gibt es keinen einzigen Mythos, der das Begehren des Sohnes zur Mutter schildert, während aber das Begehren der Mutter zu ihrem Sohn oder das einer älteren Frau zu einem jugendlichen Mann, der gegebenenfalls Stiefsohn der Frau ist, häufig vorkommt, nämlich bei Bellerophontes, Hippolytes und Attis. Diese jungen Männer aber wehren sich und weisen das Anerbieten der Mutter bzw. Stiefmutter entschieden zurück. Hier taucht kein einziges Mal der Vater oder der Mann der liebedsanbietenden Frau als Rivale auf.

6. Der Inzest zwischen Tochter und Vater ist ein mindestens sechsmal vorkommendes Motiv in den griechischen Mythen. Eine solche Häufung gäbe größeren Anlass als das einmalige Ödipusdrama, eine fundamentale Gesetzmäßigkeit von sexueller Liebe zwischen Vater und Kind zu postulieren. Hier entwickelt sich das Geschehen unterschiedlich, einmal von der Tochter, einmal von dem Vater ausgehend. In allen Fällen ist von der Mutter nicht die Rede, geschweige von irgendeinem Mordwunsch, welche die Tochter ihrer Mutterrivalin gegenüber hege. Wieder begegnet uns ein präzises, auf einen Menschen gerichtetes Motiv ohne Verkettung mit einem analogen Konflikt zum anderen Elternteil.

7. Mehrere mythischen Väter opferten oder töteten ihre Töchter. Dieses zeigt, dass die Liebe zur Tochter durchaus von minderer Stärke sein kann als die Liebe zu einem Gott, um dessentwillen das Opfer dem Vater abverlangt wird. Nach Hygins (238) Aufzählung waren es vier:

Väter, die ihre Töchter töteten

Agamemnon, Sohn des Atreus, tötete Iphigeneia, welche Artemis rettete. Klymenos, Sohn des Schoineus, Harpalyke, weil sie ihm seinen Sohn beim Mahl vorsetzte. Hyakinthos aus Sparta brachte seine Tochter Antheis um, gemäß dem an die Athener ergangenen Orakel. Erechtheus, Sohn des Pandion,

(Hygin 238)

8. Unzählige Verwandtenmorde fanden aus Rache und Machtgier statt. Dieser und der vorige Punkt sprechen explizit von ganz anderen als inzestuösen Motiven, die für Morde ausschlaggebend sind. Auch hier könnenwir auf die lapidare Aufzählung verweisen, die Hygin vorgenommen hat:

Verwandtenmörder

Theseus, Sohn des Aigeus, den Pallas (Pelias) den Sohn des Bruders Neleus’. Amphitryon den rlektryon, den Sohn des Perseus. Meleagros, Sohn des Oineus, seine Oheime Plexippos und Agenor wegen Atalante, der Tochter des Schoineus. Telephos, Sohn des Herakles, Hippothoos und Nereus2, die Söhne seiner Großmutter. Aigisthos den Atreus und Agamemnon, den Sohn des Atreus. Orestes den Aigisthos, den Sohn des Thyestes. Megapenthes, Sohn des Proitos, den Perseus, Sohn des Zeus und der Danae, wegen des Vaters Tod. Abas tötete wegen seines Vaters Lynkeus den Megapentlles. Phegeus, Sohn des Alpheios, die Tochter seiner Tochter Alphesiboia. Amphion, Sohn des Tereus, die Söhne seines Großvaters. Atreus, Sohn des Pelops, setzte Tantalos und Pleisthenes, die kleinen Söhne des Thyestes, diesem zum Mahle vor. Hyllos, Sohn des Herakles, den Sthenelos, den Bruder seines Urgroßvaters Elektryon. Medos, Sohn des Aigeus, den Perses, den Bruder des Aietes, einen Sohn des Helios. Daidalos, Sohn des Eupalamos, den Sohn seiner Schwester, Perdix, aus Neid auf seine Geschicklichkeit.

(Hygin 244)

9. Bruder- und Neffenmorde sind so häufig, dass man geneigt sein könnte, den Bruderzwist als Basiskonflikt jedes Geschwisterpaares zu deklarieren und ihn dem Ödipuskomplex an Bedeutung gleichzusetzen.

10. Mütter, die ihre Söhne töteten, zählt Hygin (259) auf:

Medeia, die Tochter des Aietes, den Mermeros und Pheres, ihre Söhne von lason. Prokne, Tochter des Pandion, den Itys, ihren Sohn von Tereus, dem Sohn des Ares. Ino, die Tochter des Kadmos, den Melikertes, ihren Sohn von Athamas, dem Sohn des Aiolos, als sie vor ihm floh. Althaia, Tochter des Thestios, den Meleagros, ihren Sohn von Oineus, dem Sohn des Parthaon, weil er seine Oheime getötet hatte. Themisto, die Tochter des Hypseus, den Sphingios und Orchomenos, ihre Söhne von Athamas, dem Sohn des Aiolos, auf Anstiften der Ino, der Tochter des Kadmos. Tyro, die Tochter des Salmoneus, ihre zwei Söhne von Sisyphos, dem Sohn des Aiolos, gemäß dem Orakel des Apollon. Agaue, die Tochter des Kadmos, den Pentheus, den Sohn Echions, auf Anstiften des Dionysos. Harpalyke, Tochter des Klymenos, tötete wegen der Ruchlosigkeit des Vaters, weil sie gegen ihren Willen mit ihm geschlafen hatte, den Sohn, den sie von ihm empfangen hatte.

11. Mord an den Liebhaberinnen der Gatten bzw. an den Liebhabern der Gattinnen sind Ausbrüche der Eifersucht, die einerseits von so allgemeiner Natur sind, dass sie in Mythen und Märchen aller Kulturen in Erscheinung treten, andererseits immer von so individueller Eigenart sind, dass sie eine unendliche Fülle von Liebes- und Liebesleidgeschichten hervorgebracht haben.

Dieser 11 Punkte eingedenk, sehe ich mich genötigt, den Vatermord und die Mutterliebe eines Mannes als zwei verschiedene Aspekte zu werten, die einzig im Ödipusdrama in einer Person zusammenfallen. Ansonsten begegnen uns die Affekte von Liebe und Hass in allen beliebigen Konstellationen, wobei als Motive für Hass besonders der Machtanspruch und die Eifersucht ins Auge fallen. Als weitere Aufstachelung zum Mord dürfte noch die Vereitelung einer lustvollen Befriedigung oder die blanke Bedrohung der Existenz in Frage kommen, was in Mythen von Ungeheuern besorgt wird, die dem Helden das Leben schwer machen. Der Ödipuskomplex ist leicht aus der Kombination von Macht und Eifersucht erklärbar: der Knabe begehrt seine Mutter und wird vom Vater vertrieben, der dieselbe für sich in Anspruch nimmt. Wie wenig es eine Rolle spielt, wer die Mutter streitig macht, zeigt sich darin, dass die Eifersucht um den Besitz der Mutter sich ebenso unter den Geschwistern entfacht. Das Problem eines Vierjährigen, der, eines nachgeborenen Säuglings wegen von der Mutter zurückgesetzt wird, ist nicht weniger schwerwiegend, als wenn es der Vater wäre, der die Zurücksetzung verursachte. Der Ödipuskomplex kann sich nach psychoanalytischer Auffassung nur in der Dreier- konfiguration von Vater, Mutter und Kind installieren. Wäre er der zentrale Angelpunkt aller neurotischen Entwicklung, wie die Psychoanalytiker zu behaupten geneigt sind, müsste jeder Knabe, der nur von einem Elternteil großgezogen wird, schwer neurotisch belastet sein, da ihm die Durchführung einer ödipalen Phase erspart geblieben ist. Da sich bei Kindern, die bei einem allein stehenden Elternteil aufwachsen, nur individuell gerichtete Neurosen ergeben, und keinesfalls auf den Ödipuskomplex bezogene, kann der Ödipuskomplex nicht allgemeiner Natur sein. Um dieses wiederum mit dem Mythos zu belegen, kann darauf verwiesen werden, dass sich Ödipus in einer familiären Dreierkonstellationbei nur bei seinen Pflegeeltern befand. Sein richtiger Vater konnte ja gar nicht als Rivale auftreten, weil er nicht anwesend war, und seine richtige Mutter konnte kein Liebesobjekt darstellen, weil sie ebenfalls nicht anwesend war. Der ödipale Konflikt hätte sich demnach nur bei den Pflegeeltern abspielen können.

Beobachten lässt sich bei vier- bis sechsjährigen Kindern, dass sie Vater und Mutter wechselweise lieben oder hassen, je nach Situation. Versagt die Mutter dem Sohn einen Wunsch, so wird sie von ihm geschlagen oder verwünscht, erfüllt der Vater dem Sohn einen Wunsch, so wird er liebkost. Lieben oder hassen richtet sich nach Wunscherfüllung und Wunschversagung. Beschneidet die die Mutter das Liebesbegehren des Sohnes, kommt es zu Konflikten aggressiver Art, gegebenenfalls in Form von Todeswünschen gegen die Mutter als Reaktion auf versagte Liebe. Ist der Vater streng zum Sohn, zieht er auf sich die entsprechenden “Todeswünsche”.

In jedem Fall sehen wir, dass es nicht der Knabe ist, der die Aggression primär gegen seine Eltern richtet, sondern erst dann, wenn ihm Wünsche versagt werden, darunter Liebeswünsche sowohl zur Mutter als auch zum Vater. Die Aggression des Kindes gegen den Vater beginnt nicht aus Gründen unabwendbarer Triebentwicklung, sondern durch die Art und Weise, wie der Vater dem Sohn begegnet. Diesbezüglich fehlt es nicht an einer symbolischen Entsprechung im Mythos: Es war der alte Laios, der Ödipus befahl, den Weg zu räumen (Sophokles, König Ödipus, 801), und der junge Laios, der den Knaben aussetzen ließ (in allen Versionen außer Sophakles, z.B. Hygin 66). Aus der spezifischen Haltung des Vaters zum Kind kann sich erst der Ödipuskomplex herausbilden. Denn was heißt Aussetzung anderes, als den Sohn dem Tode aussetzen. Sollte es aber die Mutter gewesen sein, die die Aussetzung veranlasste, wie Sophokles es darstellt (König Ödipus, 1174), müsste diese des Sohnes Aggression auf sich gezogen haben. Dieses zu belegen, lässt uns das Drama nicht im Stich:

Denn schreiend stürzte Ödipus herein,

So dass ihr Ende uns entging und sich

Der Blick auf ihn, den Angstgehetzten wandte,

Der taumelnd naht und heischt von uns ein Schwert,

Wo er sein Weib, nicht Weib, wo er die Mutter,

Seine und seiner Kinder Mutter finde.

(Sophokles, König Ödipus 1252-1257)

Zwar wird im weiteren nicht gesagt, wofür Ödipus das Schwert verlangte, als er nach Entdeckung der schrecklichen Wahrheit, seine Frau (gleich Mutter) suchte, doch man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass er sich an ihr rächen wollte. Sie aber hatte sich

erhängt, hoch in geflochtener Schlinge schwebend.

(Sophokles, König Ödipus 1263)

Warum hat sich Jokaste erhängt?

Ein Rachegelüste von Seiten Ödipus ist mindestens dreifach determiniert: erstens hat diese Mutter ihn ausgesetzt, was Enttäuschung und Aggression zur Folge hat, zweitens trägt sie Schuld an der Vermählung, insofern als von ihr das Anerbieten zur Vermählung kam, wenn auch nicht direkt, so doch mittelbar durch ihren Bruder (Hygin 67), und drittens wird durch den Tod der Mutter die inzestuöse Bindung ein für allemal zerschlagen.

Interpretieren wir hingegen das Drama aus der Sicht Jokastes, dann findet der Selbstmord seine Erklärung in schweren Schuldgefühlen Diese können in der Versäumnis ihrer Mutterpflichten wurzeln, der Schuld, ihren Sohn als Säugling dem Tode preisgegeben zu haben, oder auch darin, dass sie ihren Sohn fahrlässigerweise in den Inzest getrieben hatte.

Unverkennbar schält sich aus dieser Szene eine Schuld, die auf Jokaste schwer lastet. Wäre sie bloß das Opfer eines sie begehrenden Sohnes, wäre der Anteil ihrer Schuld kaum verständlich. In anderen Inzestmythen taucht nie Zweifel auf, wen die Schuld trifft: immer jenen, an dem das Liebesverlangen nagte und der die Verführung einleitete. Wenn wir uns den ältesten überlieferten Text der Ödipussage vor Augen halten, wird die hier intendierte Interpretation von Jokastes Schuld im Sinne einer den Sohn ergreifenden und ins Verhängnis treibenden Aktivität untermauert:

Hierauf kam Epikaste, die schöne, Ödipus Mutter,

Welche die schrecklichste Tat mit geblendeter Seele verübet.

Ihren leiblichen Sohn, der seinen Vater ermordet,

Nahm sie zum Mann! Allein, bald rügten die Götter die Schandtat.

Ödipus herrschte, mit Kummer behäuft, über der lieblichen Thebe

Über Kadmos Geschlecht durch der Götter verderblichen Ratschluß.

Aber sie fuhr hinab zu den festen Toren des Todes,

Denn sie knüpft an das hohe Gebälk, in der Wut der Verzweiflung

Selbst das erdrosselnde Seil, und ließ unnennbares Elend

Jenem zurück, den Fluch der blutgeschändeten Mutter.

(Homer, Odyssee XI, 271-280)

Wenn wir die Sphinx, die Ödipus zum Helden gemacht hat, als die mythische Verkörperung einer bösen Mutter verstehen, dann gewinnen wir einen weiteren Aspekt des Mutter-Sohn-Komplexes, den Ödipus zu bewältigen hatte. Das Drama führt uns drei weibliche Gestalten vor: Merope, die Ziehmutter, die Sphinx als mütterliche Schreckgestalt, und schließlich Jokaste, die richtige Mutter. Des Kindes Mutterbild wandelt sich in ein Schreckbild, das als Sphinx den Menschen bedroht. Das Selbstverständnis der Existenz wird um so mehr in Frage gestellt, je schwerer das Muttertrauma das Vertrauen des Kindes in die Welt und in sich schwächt. Ödipus ist aber nicht soweit geschädigt, dass er kein Vertrauen mehr hätte, sondern durch Merope hat er so viel an Mutterliebe erfahren, dass das Trauma kompensiert werden konnte. Ödipus befindet sich nun in Ambivalenz der Mutter gegenüber, er fühlte Liebe zu ihr und Hass. Der Hass zeigt sich nicht nur in den oben zitierten Szenen, sondern auch in der Besiegung der Sphinx, die sich nach der Lösung des Rätsels in die Tiefe stürzt. (oder die Ödipus ersticht, wie es ein Vasenbild aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zeigt) Ödipus hat damit seinen Mutterhass überwunden und kann nun in Liebe seine Mutter aufsuchen. Diese allerdings missbraucht die Liebe, indem sie ihren Sohn inzestuös bindet.

Das Verhängnis des Inzests besteht in der Fixierung der Libido auf ein Objekt, das nicht durch aktive Wahl errungen werden musste, sondern durch naturgegebene Affinität zugeordnet ist. Damit fehlt der Psyche die Flexibilität zur libidinösen Neubesetzung von Objekten, was den Menschen kulturell Abbruch tut. Ödipus ist durch das Trennungstrauma mit seiner Mutter in einen ambivalenten Konflikt geraten, der die normalerweise problemlose Bindung und Ablösung in eine Bindungs- und Lösungsangst pervertierte, aus der heraus er das Verhängnis heraufbeschwor, das er vermeiden wollte. Denn dass er seine Mutter heiraten würde, wusste Ödipus von dem delphischen Orakel, das er, um seine Herkunft zu erhellen, befragt hatte. Er floh seine Ziehmutter aus Angst, dass sich an ihr das Orakel erfüllen würde und geriet dadurch zu seiner wahren Mutter. Es ist klar, dass hier Abwehr und unbewusster Wunsch zusammenhängen. Auch das griechische Wort chrao, “ein Orakel erteilen” oder gar das Passiv chraomai “ein Orakel erhalten” heißt auch “begehren” und “bedürftig sein”, woraus die Doppelnatur des Orakels, das man zur Erstellung seiner Ungewissheit aufsucht und das gleichzeitig den unbewussten Wunsch anzeigt, auffällig offenbart wird (vgl. v. Sterren: Ödipus, S.42). Die Unangemessenheit seines Wunsches konnte sich nur dadurch einstellen, dass die Beziehung zur Mutter derartige affektive Störungen erfahren hat. Ödipus’ Name deutet auf eine ungewöhnliche Erregungsfähigkeit:

In den ältesten Zeiten brauchte man Eigennamen auch ohne die Umschreibung “Schwellfuß”, wenn man die Eigenschaft der Daktylen meinte: damals konnte einer noch einfach Oidiphallus heißen.

(Kerenyi, Griechische Mythologie, S.80)

Ödipus’ heftiges Temperament wird in verschiedenen Texten betont, z.B. in Äschylos “Sieben gegen Theben”, wo der Chor Ödipus’ Sohn, Eteokles, zu besänftigen versucht:

Nicht, teuer König, Sohn des Ödipus, im Zorn

Nicht werde dem gleich, der das Ärgste arg gewagt.

(Äschylos “Sieben gegen Theben 677)

Auch Sophokles verschweigt Ödipus’ Zornmütigkeit keineswegs, wenn er den Helden den Mord am Vater schildern lässt:

Von Zorn gepackt, schlag ich den Lenker nieder

Ungleich zahl ich’s ihm heim: Im Nu stürzt er,

Vom Wanderstab in meiner Faust getroffen,

und so erschlag ich alle.

(Sophokles, König Ödipus 806-813)

Es liegt in Ödipus’ Charakter ein Wesenszug, sei es dispositionell, sei es durch die Besonderheit seines Schicksals hervorgerufen, der Leidenschaften in ungewöhnlicher Weise zur Wallung bringt. Unter solchen Affektstörungen leiden insbesondere Kinder, die eine starke Schwankung in der Liebeszuwendung von der Mutter erfahren haben, dergestalt, dass die Mutter sie bei seltener Anwesenheit übertrieben zärtlich liebte, oder, dass sie mal das Kind sehr liebte, mal ihm sehr zürnte, und dieses in einem dem Kind nicht verständlichen Wechsel. Wenn wir die Pflegemutter Merope und die wahre Mutter Jokaste als Erscheinungsformen der einen Mutter ansehen, repräsentieren die zwei weiblichen Gestalten genau den eben beschriebenen Wechsel affektiver Zu- bzw. Abwendung, indem Merope die positive, Jokaste die negative Begegnung figurieren. Die wirkliche Mutter, Jokaste, liebt ihren Sohn nicht als Mutter, sondern nur in der unangemessenen Form einer Gattin.

Der Inzest stellt eine extreme Variante des kindlich libidinösen Liebesverlangen dar, die sich nur unter gewissen Bedingungen zur manifesten Form des Inzestes steigert, hauptsächlich dann, wenn die Mutter das Kind an sich so fixiert, dass es die entwicklungspsychologischen Ablösungsprozesse nicht vollziehen kann.

Die Neigung zum Inzest ergibt sich aus der ersten libidinösen Bindung zur Mutter, wird aber in allen Kulturen unter ein schweres Tabu gestellt. Die starke Abwertung der Frau und Mutterschaft sorgte im antiken Griechenland für eine Festigung des Inzesttabus. Da viele Mythen über Inzest berichten, kann man davon ausgehen, dass der Inzest ein immer wieder an die Oberfläche des Bewusstseins tretendes Phänomen war, das radikal abgewehrt werden musste.

Das konnte durch frühzeitige Wegenahme des Kindes aus dem Fürsorgebereich der Mutter bewerkstelligt werden, wie es bei allen mythischen Helden vollzogen wurde oder wie es auch in Initiationsriten der Naturvölker praktiziert wird. Es konnte auch durch Dritte geschehen, welche die Liebe des Kindes auf sich zogen, wie z.B. Adoptiveltern, Pädagogen, Freunde. Das Kind überträgt die primäre Liebe auf neue Personen. Das Kind könnte aggressiv von eifersüchtigen Geschwistern attackiert, von Freunden verhöhnt, wenn es Liebe zur Mutter zeigte, oder vom Vater zurückgewiesen werden. All diese Maßnahmen einzeln oder in Verbindung sorgen für die Entstehung eines Inzesttabus.

Bei Abwesenheit der genannten Einflüsse, z.B. wenn ein Kind bei einer alleinstehenden Mutter aufwächst, gibt es kein Abklingen der Zärtlichkeitsgelüste des Knaben bis in die Jugendzeit, wo ihm die Gelegenheit gegeben wird, seine Liebe auf ein Mädchen zu übertragen. Aus der eben dargestellten psychosexuellen Entwicklung ist ableitbar, dass die Inzestneigung nicht an die frühkindliche (sogenannte ödipale) Phase gebunden ist.

Wie auch die Träume von Kindern und Jugendlichen belegen, besteht die Inzestneigung die ganze Kindheit. Die primäre Liebe ist paradigmatisch für alle weiteren Liebesbeziehungen, und nur eine relative Abwehr der primären Libidobesetzung führt zu einer befriedigenden Übertragung auf einen anderen Geschlechtspartner. Mit dieser Übertragungsfähigkeit hat sich die Psyche eine Flexibilität erworben, die grundsätzlich für alle Akte der Sublimierung vorteilhaft ist. Bei Verhaftung an die primäre inzestuöse Bindung würde dem Mann die für ihn günstig erscheinende Dominanz über den Sexualpartner fehlen, da die Mutter ihre von Geburt auf innehabende Macht über das Kind bei inzestuöser Bindung auch bei dem erwachsenen Sohn nicht aufgeben würde, was bei typischen Mutter-Sohn-Fixierungen nachweisbar ist. Das Ödipustrauma liefert auch diesbezüglich beweiskräftiges Material: Als Ödipus Kenntnis vom Inzest erlangt hat, verliert er seine königliche Macht. Solange er seine Mutter als Gattin betrachten durfte, war ihm der Status des Herrschers garantiert. Ein Sohn aber, der sich von der Mutter nicht gelöst hat, sondern in der infantil-libidinösen Abhängigkeit verharrt, kann nicht Herrscher sein. Von daher ist es wahrscheinlich, dass die strengen Inzesttabus aus dem partiarchalen Machtstreben entstanden sind und das Ziel anpeilen, die Dominanz der Großen Mutter zu untergraben. Im Falle des Geschwisterinzests repräsentiert, tiefenpsychologisch gesehen, die Schwester die Mutter, der Bruder den Vater. Aus der Bedrohung der männlichen Dominanz, die sich in der inzestuösen Verkettung nicht etablieren kann, werden wir auf einen anderen Ursprung des sogenannten Kastrationskomplex verwiesen: Es ist nicht der Vater, der die Abschneidung des Sexualgliedes seines Sohnes androht, des weiteren nicht der Anblick des beim weiblichen Genitale fehlenden männlichen Gliedes, das den Kastrationskomplex auslöst, sondern es ist die durch den Inzest vereitelte Dominanz. Von daher ist es verständlich, dass sich in der pathologischen Realität auch Kastrationskomplexe einstellen, wo nicht im entferntesten ein drohender Abschneider auftauchte. Die Mutter selbst, beziehungsweise ihre Dominanz, fördert im Kind die Phantasie der Kastration. Es ist auffallend, dass der Homosexuelle erstens eine starke Mutterbindung bei Abwesenheit eines dominanten Vaters erfahren hat, und dass ferner seine Angst vor heterosexuellem Verkehr auf der Vorstellung beruht, dass die Frau eine beißende Scheide habe. Letzteres ist Kastrationsangst, die ganz deutlich Folge mütterlicher Dominanz und nicht väterlicher Kastrationsdrohung ist. Im Gegenteil stellt sich bei väterlicher Dominanz und nachweislicher Kastrationsdrohung keine Homosexualität, sondern männlich dominantes Verhalten ein (natürlich nur, wenn das Maß der Bedrohung innerhalb gewisser Grenzen verbleibt). Die Kastrationsangst kann auch als pervertierter Wunsch, keinen Penis zu haben und dadurch wie die geliebte Mutter zu sein, interpretiert werden. Die Symptome der Homosexualität wären gar nicht verständlich, wenn der Knabe unter dem Bewusstsein stünde, den Vater verdrängt und seine Stelle an der Seite der Mutter eingenommen zu haben. Dann müsste er sich zeitlebens als starker, siegreicher Mann fühlen und als ein solcher nur Frauen begehren, die ihm durch Willfährigkeit diese Dominanz bestätigen. Der Kastrationskomplex entsteht folglich aus der Fixierung an die Mutter. Die unheilvolle Sphinx (Hesiod, Theogonia 326) verkörpert die männerentmachtende Dominanz der Mutter. Sie wird uns von Hygin als ein Wesen geschildert, das mit dem Herrscher in Wettstreit tritt:

Nach dem Tode des Laios nahm Kreon, der Sohn des Menoikos das Reich in Besitz; inzwischen wurde die Sphinx, Typhons Tochter, nach Böotien geschickt, wo sie das Ackerland der Thebaner heimsuchte, sie schlug dem König Kreon einen Wettstreit vor: wenn irgendeiner das Rätsel, das sie aufgäbe, löste, wolle sie das Land verlassen, wenn er aber die Lösung nicht fände, werde sie ihn umbringen, sonst werde sie unter keiner Bedingung weichen. Daraufhin ließ der König in ganz Griechenland bekannt machen: wer das Rätsel der Sphinx löse, dem werde er die Herrschaft geben und seine Schwester Jokaste als Gattin. Schon waren mehrere gekommen, von der Begierde nach Macht verlockt, und waren Opfer der Sphinx geworden, da kam Ödipus und deutete das Rätsel. Die Sphinx stürzte sich in den Abgrund. Ödipus erhielt die väterliche Herrschaft. (Hygin 67)

Der vorliegende Text spricht sehr deutlich von Konkurrenz der Macht, die ein männlicher König mit einem weiblichen Ungeheuer auszufechten hat. Solange ihr Rätsel, das die geheime Macht und den gefährlichen Besitzanspruch über den Menschen symbolisiert, nicht entdeckt worden ist, herrscht sie und vernichtet Männer. Erst wenn sie, d.h. die verschlingende mütterliche Gewalt, gebrochen ist, kann das Land von einem Mann segensreich regiert werden. Ödipus vermochte diese Heldentat zu leisten, solange er dem Inzest noch nicht anheimgefallen war. Psychoanalytisch ist Ödipus von zwei unvereinbaren Wünschen zerrissen: der Überwindung der weiblich erdrückenden Dominanz und dem Wunsch nach der primären inzestuösen Liebe.

Die Bedeutung des Ödipusdramas liegt nicht nur in der einzigartigen Koppelung zweier Ereignisse, nämlich dem Inzest und dem Vatermord, sondern auch in einer Fülle anderer psychischer Gegebenheiten, die das menschliche Schicksal ausmachen. Bei Ödipus bleibt symbolisch die Liebe zu seiner Mutter zeitlebens erhalten: Durch seine Blendung ist es Ödipus nicht mehr möglich, eine andere Frau zu lieben. Im Dunkel seiner blinden Augen bewahrt er nun bis ans Lebensende das Bild der Mutter.

Sie sollten künftig

Im Dunkel sehen, die er nie gedurft.

(Sophokles, König Ödipus 1270)

Wenn sich bei seinem Tode der Erde Dunkel auftut, um ihn zu empfangen, scheint es wie ein nochmaliges, symbolisches Zurücktauchen, dass ausnahmslos jeder bei seinem Tode zurück in die Erde sinkt, doch kennt die Mythologie auch andere Apotheosen, nämlich solche, wo der Held nach seinem Tode an den Himmel versetzt wird, wie z.B. Perseus, oder in den olympischen Sitz der ewigen Göttern aufgenommen wird, wie Herakles, so dass es mythisch sehr wohl anderes Verscheiden gibt als das in das irdische Grab.

Auffallend am Drama ist, dass Ödipus nicht seinen psycho- und soziofunktionalen Vater tötet, nämlich den, der ihn erzog, und nicht seine funktionale Mutter heiratet, sondern die Taten an seinen leiblichen Eltern vollzieht, die er nie gekannt hat. Das zeigt, wie wenig die Griechen die Bedeutung des Umwelteinflusses in Betracht gezogen haben, als vielmehr eine Schicksalsfügung, die orakelhaft und unbeeinflussbar im sozialen Geschehen verankert war. Eine Gleichsetzung der psychischen Situation des Königs Ödipus mit der eines Kindes, würde niemals zum Syndrom “Ödipuskomplex” führen. Im Gegenteil, bei psychologischer Übertragung hätte gerade Ödipus keinen Ödipuskomplex gehabt, weil er nicht mit seinen psychofunktionalen Eltern in Konflikt geraten ist. Das Drama legt eine Deutung nahe, der zufolge zwei Ereignisse zu einem einzigen verdichtet sind: Leibliche Eltern und Adoptiveltern sind als zwei Aspekte des einen genetischen Elternpaares zu sehen, wenn wir nicht die Adoptionsgegebenheiten, sondern die der ödipalen Konflikte ins Auge fassen wollen. Die Pflegeeltern, Polybes- und Merope, repräsentieren demzufolge die liebevolle Fürsorge, die ein Kind zur gesunden Entwicklung braucht, die leiblichen Eltern, Laios und Jokaste, jene Tendenzen der Eltern, die das Kind ablehnen und es inzestuös missbrauchen. Da letztere normalerweise unbewusst bleiben, erscheinen sie im Mythos in der Fassung, dass sich Eltern und Kind nicht kennen.

Die Katastrophe bricht erst herein, als Ödipus das Geschehene erfährt, d.h. über seine Herkunft Bescheid weiß. Anders als im psychischen Prozess, wo die unbewussten Regungen die Dynamik des Seelenlebens bewirken, kommt das Rad des Verhängnisses im Drama erst dann ins Rollen, als Ödipus von seiner Situation Kenntnis erhält. Hier kommen Verhaltensweisen zum Vorschein, wie sie an heutigen Menschen nachzuweisen sind, wie die Verdrängung dessen, was nicht sein darf, das sogenannte Ungeschehen-Machen. Ödipus sieht lange Zeit keine Beziehung zwischen sich und dem angeblichen Mörder des Königs Laios, ebenso hegt Jokaste keinen Argwohn, dass ihr Gemahl Ödipus, trotz seiner Schwellfüße, ihr Sohn sein könnte. Aber das sind Beiläufigkeiten des allgemein Menschlichen, die nicht den philosophischen Kern berühren. Das Wesentliche im Mythos liegt in der Handlung. Wenn diese als Verbildlichung eines psychischen Zustandes gesehen wird, dann hat man den Kern der Aussage erfasst, denn nichts ist zwischen den Zeilen, sondern in sinnlich fassbaren Bildern.

Außer Vatermord und Mutterheirat vollzieht Ödipus eine dritte bedeutsame Tat: die Befreiung der Stadt Theben von der Sphinx. Ihr Rätsel stellt die Frage nach der menschlichen Existenz. Ödipus vermag die Antwort zu geben und erweist sich dadurch als wahrer, d.h. heldenhafter Mensch. Das Schicksal stellt ihm die Frage aber nicht nur rational, sondern auch emotional: “Wohin führt Dein Weg?” Und hier versagt Ödipus, weil er zurück zur Mutter geht. Die Bestimmung des menschlichen Daseins ist erst erfüllt, wenn die primäre Liebesbeziehung, die Liebe zur Mutter, überwunden, und die Loslösung so gründlich vollzogen ist, dass nie wieder ein Rückfall in den Mutterschoß entsteht. Das in allen Völkern bekannte Inzestverbot resultiert aus der unbewussten Erkenntnis, dass psychische Entwicklung nur möglich ist, wenn der Loslösungsprozess von der primären Person vollzogen worden ist. Diese Trennung von der Mutter ist ein entscheidender Entwicklungsschritt des Menschen.

Das auffälligste Zeichen verhängnisvoller Abhängigkeit stellt die körperlich erotische Beziehung dar: Aus diesem Grunde bestehen bei allen Völkern Initiationsriten, die in Form harter Prüfungen den Knaben aus mütterlicher Geborgenheit herauslösen: Die Mutter ist das emotional Bannende und damit Gefährliche, der Vater oder seine gesellschaftlichen Repräsentanten das Element, welches Bewusstsein schafft und die Fähigkeit stählt, den mütterlichen Bann aufzulösen.

Die gesamte Demütigung, die sich Ödipus durch die selbstauferlegten Strafen der Blendung, der Thronentsagung und der Verbannung zufügt, spricht für die im pathologischen Bereich immer wieder nachweisbaren Selbstbestrafungswünsche, die sich genau jener Symptome bedienen, welche die psychischen Konflikte markieren. So rühmt sich Ödipus vor dem Zusammenbruch als Deuter des Sphinx’schen Rätsels (Sophokles, König Ödipus 398), ist stolzer Inhaber eines Thrones und Gatte einer großen Königin.

Die existenzielle Tragik besteht darin, dass Ödipus nicht aus heldenhafter Kraft, sondern lediglich durch Reaktivierung einer primären inzestuösen Liebe Leistungen vollbracht hat. Sein Sturz symbolisiert die psychische Schwäche, unter der jener leidet, der der inzestuösen Bindung nicht entwachsen konnte.

Ödipus’ Schicksal vollzieht sich anfangs wie das jedes griechischen Helden: die Trennung von der Mutter geschieht nach der Geburt, doch widerfährt ihm dabei etwas, das anderen Helden erspart geblieben ist, nämlich die Unkenntnis von diesem Ereignis, oder genauer noch gesagt, die Unwissenheit darüber, wer seine wahren Eltern sind. Denn nur in unzweifelhafter Kenntnis darüber, wer die eigene Mutter ist, und bei gelungener Internalisierung des Inzesttabus, ist es möglich, sich der libidinösen Übermacht der Mutter zu befreien. Ansonsten aktualisiert sich der Rückfall in die primäre Liebesbeziehung bei entsprechender Gelegenheit. Alle anderen griechischen Helden fielen nach der ersten Trennung von der Mutter nicht mehr in ihren Schoß zurück. Dass Ödipus diesem Verhängnis erliegt, hängt mit seiner Unkenntnis des Sachverhaltes zusammen. Indem er sich die Augen aussticht, tut er so, als seien sie die Ursache der Unkenntnis gewesen.

Von den Kleidern reißt

Er ihr die goldenen Spangen, die sie schmückten,

Hebt sie und schlägt sie sich ins Rund der Augen

Und schreit: Dass sie nicht sähen, was er litt

Und was er Böses tät, sollten sie künftig

Im Dunkel sehen, die er nie gedurft,

Und nicht erkennen, welche er begehrt.

(Sophokles, König Ödipus 1268 – 1274)

Die Blendung will also das Organ vernichten, das als Erkenntnisinstrument versagt hat. Dadurch ist der Blinde aber noch nicht bar jeder Erkenntnisvermittlung. Er muss sich nun auf seine Eingebung verlassen, die von der äußeren Erscheinungsform der Dinge nicht mehr geboten werden kann, sondern von einer über oder außersinnlichen Wahrnehmung, der nach mythischer Auffassung eine größere Wahrheit zukommt als der sinnlichen. Ödipus als blinder Greis von einem Fremden befragt:

„Wie könnt uns von dem Blinden Gutes kommen?”

antwortet:

„Was ich dir sage, das ist alles sehend.”

(Sophokles: Ödipus auf Kolonos 73 – 74)

Wenn die Blendung einen symbolischer Ersatz für die Kastration darstellt (S. Freud, Abriss der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1971, S.47), dann muss darauf hingewiesen werden, dass diese eine vom betroffenen Individuum selbst vollstreckte ist. Der Ödipusmythos deutet nichts an von einer vom Vater angedrohten oder vollzogenen Kastration, sondern legt das Problem geleisteter Entsagung dem betroffenen Individuum selbst zur Bewältigung auf.

Die Vertauschung der Erkenntnis vom Sinnlichen ins Übersinnliche entspricht der Tendenz, die in der Sublimierung sexueller Energie in kulturelle Leistungen waltet. Das Sinnliche ist grundsätzlich das Niedrigere, weil es für kulturelle Ziele nicht in dem Maße geeignet ist wie das Entsinnlichte und Geistige. Nach seiner Blendung und Verbannung aus der Heimat ist Ödipus ein blinder Weiser und hat damit ein im patriarchalen Bewusstsein schätzenswertes Menschenideal erreicht. Denn ein Blinder ist frei von allem äußeren Schein, so dass er zum Seher des wahren Lichtes taugt. Apollon selbst begabt Ödipus mit dem Seherblick und verleiht ihm somit am Ende seines Lebens die Vollkommenheit, die eines göttlichen Helden würdig ist:

Doch welchen Todes jener (Ödipus) starb, dies kann

Kein Sterblicher, es sei denn Theseus, sagen.

Denn nicht ein Feuerstrahl der Götter hat

Ihn hingerafft und auch des Meeres wild

Erregte Woge nicht in jener Stunde.

Ein Bote war’s der Götter, oder mild

Tat sich der Erde Dunkel auf.

Denn ohne Seufzen und von keinem Leiden

Gequält ward er entsendet, wunderbar,

Wie nie ein Mensch.

(Sophokles: Ödipus auf Kolonos 1656 – 1664)