Spiegel und Introspektion

Vortrag anläßlich der Verabschiedung der Diplomanden

am 27. Okt.1999 im Gießhaus der Universität Kassel

gehalten von Prof. Dr. Ewald Rumpf

Sehr geehrte Damen und Herren!

Mit Ihrem sozialwissenschaftlichen Studium haben Sie neben dem Gewinn von Erkenntnis und Prestige auch einen Prozeß der Selbsterkenntnis durchlaufen. Die Selbsterkenntnis beruht auf dem Prinzip der Spiegelung, sei es im übertragenen Sinn, daß Sie gedanklich über sich reflektieren oder sei es im buchstäblichen Sinne, daß Sie einen Spiegel benutzen. Den Zusammenhang von Spiegel und Introspektion möchte ich in meinem folgenden Vortrag beleuchten.

Die Natur liefert den Spiegel in Form einer ruhigen Wasseroberfläche. Da das eigene Bild im Wasser meist dunkel wie ein Schatten gesehen wird, gibt es in alten Sprachen, z.B. im Mittelhochdeutschen noch etymologische Gleichheit von Schatten und Spiegelbild. Beides wird vom Menschen als Abbild seines Körpers wahrgenommen und gleichzeitig als unheimliches Attribut der Persönlichkeit empfunden. Erst die antiken Zivilisationen haben die ersten künstlichen Spiegel erfunden, denen dann eine ähnlich geheimnisvolle Wirkung zugesprochen wurde wie dem Spiegelbild im Wasser. Bei vielen Kulturen gilt das Spiegelbild als Träger der Seele. Ursprung dieses Glaubens ist sicherlich die Vorstellung, daß die Seele ein kleines Abbild des Menschen, ein sogenanntes Eidolon sei, das unter bestimmten Umständen, z.B. beim Tod sichtbar entweichen kann. Dieses Eidolon taucht in den Tiefen des Wassers auf, wie das Seelenbild beim introspektiven Eintauchen in tiefere Schichten der Persönlichkeit. Um nicht der Seele einen Schaden anzutun, darf z.B. nach bestimmten abergläubischen Vorstellungen das Spiegelbild im Zimmer eines Sterbenden oder am Karfreitag nicht betrachtet werden. Der tiefere Sinn könnte darin bestehen, daß die Betrachtung seines eigenen Zustandes zu einer Zeit, wo ein erschütterndes Ereignis über einen anderen Menschen einbricht, keinen Raum haben darf, weil der mitfühlende Sinn auf einen andern Menschen gerichtet werden muß. Die unheimlichen Geschichten, wo der Schatten oder das Spiegelbild verloren geht oder an den Teufel verkauft wird, wie zum Beispiel in Chamissos Schlemihl, weist auf die Doppelbedeutung von Schatten und Seele hin. Der Verlust bietet zwar dem Menschen alle materiellen Vorteile des äußeren Lebens, aber er verkümmert moralisch. Sinngemäß kann man sagen, daß der Verlust des Spiegelbildes oder Schattens die Selbstkontrolle so sehr einschränkt, daß es dem Verlust der Seele gleichkommt.

Daß dem Spiegel auf der ganzen Welt zu fast allen Zeiten besondere Kräfte zugeschrieben wurden, beweisen zahlreiche abergläubische Vorstellung, zahlreiche Märchen und Mythen, in denen der Gebrauch des Spiegels mit Zauber, magischen Kräften, heiligen Weihen und geheimen Offenbarungen verbunden war. Im antiken Dionysoskult mußte der Adept zu einer bestimmten Zeit in den Spiegel schauen, um durch diesen Akt der Selbstbetrachtung eine Stufe höher im Prozeß der Einweihung zu schreiten. Es gibt Märchen, wo die Befragung eines Spiegels dem Helden den weiteren Weg weist. Im alten Testament wird sogar der strahlende Glanz auf dem Antlitz Moses mit dem spiegelnden Reflex der Herrlichkeit Gottes verglichen. Spiegel und Vision haben im Althebräischen noch das gleiche Wort.

Das Spiegelbild, wie auch der Schatten ist gleichsam ein erweitertes Selbst. Der Spiegel verdoppelt Ihre Gestalt. Wenn ein Gestalttherapeut Sie spiegelt oder ein Psychodramatiker Sie doppelt, macht er Ihnen ein Verhalten sichtbar, das Sie ohne diese drastische Veranschaulichung nicht wahrnehmen würden. Er zwingt Sie zu einer Reflexion, die Sie vielleicht von selbst nicht anstellen würden oder anstellen könnten, weil Sie sich nie in diesem Blickwinkel, d.h. von außen betrachten können. Die sogenannte Spiegelung durch eine andere Person verbessert ihre Selbsterkenntnis. Ein selbstgesannter Blick in den Spiegel enthüllt Ihnen vergleichsweise weniger, weil er Sie nur in einer eingeschränkten Perspektive darbietet, nämlich in jener, aus der heraus Sie sich betrachten. Obwohl er einerseits ein sehr getreues Abbild Ihrer Erscheinung wiedergibt, bleibt er doch begrenzt wegen Ihrer Sichtweise. Sie können z.B. nicht mit gesenkten Augen ihr Antlitz betrachten. Sie sehen sich immer in gerader oder leicht schiefer Gegenüberstellung mit offenen auf sich selbst gerichteten Augen. Die üblichen mimischen Reflexe beim Sprechen, Schauen usw. werden Sie kaum im Spiegelbild wiederfinden, weil der Blick in den Spiegel immer ein beobachtender ist und Sie sich deshalb immer als einen Beobachtenden sehen. Im normalen Leben sind sie jedoch vieles mehr: Sie sind in erster Linie agierender und zeigen ein Fülle von Verhaltensweisen, welche zwar andern Menschen auffallen, Ihnen aber nicht auffallen können, weil für sie uneinsehbar, ja uneinsichtig oder für sie unbewußt ablaufen. Ein sehr gut treffendes Bild von sich erleben Sie beim Betrachten eines Videofilmes, der von Ihnen ohne Ihr Wissen aufgenommen wurde. Solch ein Anblick, besonders wenn er zum ersten Mal stattfindet, ruft Erstaunen im Betrachter hervor, weil er Gestik und Mimik gewahr wird, die ihm vormals in jeder Weise entgangen sind. Demnach liefert der Spiegel also nur einen Ausschnitt aus Ihrem Erscheinungsbild. Das Spiegelbild liefert also nur begrenze Kenntnis übe

r den Selbstbetrachter. Es verhält sich zum Videobild wie Selbstanalyse zur Psychoanalyse. Was dem selbstanalysierenden Subjekt an Perspektivenvielfalt fehlt, ergänzt die Sicht des Analytikers.

Es ist hierbei kritisch anzumerken, daß das Spiegelbild seitenverkehrt ist und trotz aller naturgetreuen Verdoppelung einen Perspektivenbruch aufweist. Unser Gesicht lesen wir zwar in aller Vertraulichkeit, da wir es nicht anderes zu sehen pflegen, aber versuchen Sie mal, Ihre Handschrift im Spiegel zu lesen. Sie werden sich wundern, wie wenig Sie entziffern können! Diese heimliche, oft nicht wahrgenommene Seitenvertauschung, die dann plötzlich zu einer völlig verfälschten Ansicht ausarten kann, hat zuweilen zu einer negativen Attributierung des Spiegels als Täuschungsinstrument geführt. Er wird zum Beispiel in einem Bild von Memling, wo sich eine nackte Frau im Spiegel betrachtet, zum Symbol der Vanitas stilisiert. In dem Bild Die drei Lebensalter von Hans Baldung Grien erscheint der Spiegel als Täuschung schlechthin. Über der schönen ebenfalls nackten Frau, die sich im Spiegel betrachtet, hält der Tod die Sanduhr. In jeder Selbstbetrachtung sollte, nach der Auffassung mancher Weisen, auch die Hinfälligkeit des irdischen Lebens ins Kalkül gezogen werden, so wie der berühmte 90. Psalm sagt: “Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen. Du lässest die Menschen dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, gleich wie ein Gras, das frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt. ”

Gewaltig kontrastiert dagegen die Bewertung des römischen Schriftstellers Apuleius, der in seiner Apologie des Spiegels ausruft: “Seht nur, um wieviel ähnlicher der sorgfältige Schliff und der schöpferische Glanz eines Spiegels etwas abbildet als die Künste!”

Die Perspektive läßt sich vermehren durch Hinzuziehen eines zweiten Spiegels: Wir können uns schräg von der Seite und von hinten sehen. Das erweitert das Selbstbild um ein Halbprofil mit starrem Seitwärtsblick. Wir kommen uns dadurch ein bißchen näher, etwa so, wie wenn wir uns fragen würden, wie uns ein anderer Mensch in einem gegebenen Augenblick sehen würde. Wir stellen das Selbstbild dem Fremdbild gegenüber und gewinnen dadurch eine erweiterte Kenntnis unseres Verhaltens. Gegenüber diesem schlichten Vergleich von Selbst- und Fremdbild können zwei Spiegel in passender Stellung auch ein Wunder bewirken: Sie multiplizieren unsere Erscheinung ins Unendliche. Die Zwillings-, Drillings- und Mehrfachgeburten der natürlichen, aber im menschlichen Bereich seltenen Multiplikation kann hier mühelos in eine faszinierende Reihe der Undendlinge gesteigert werden. “Aus eins mach zwei, aus zwei mach unendlich”- so könnte die alchemistische Rätselformel des Spiegels lauten. Auf die Seele übertragen lautet der hochtrabende Spruch: Erkenne dich selbst und du wirst aller Weisheit der Welt teilhaftig. (Ich zweifle an dieser Formel). Der Selbsterkenntnisprozeß unterliegt wie jeder Erkenntnisprozeß den Beschränkungen der Teilaspekte, welche wir auf einen Gegenstand richten. So nehme ich an mir gewöhnlich nur das wahr, was ich sowieso schon von mir weiß. Der Blick im Spiegel ist demnach ein Akt der Vergewisserung bzgl. meiner Identität. Einen neuen Sachverhalt erkenne ich an mir nur, wenn etwas inkongruent zu dem Selbstbild ist, das ich von mir habe.

Wenn ich in den Spiegel schaue, leitet auch mich ein spezielles Erkenntnisinteresse.: will ich etwas entdecken (z.B.: eine Unreinheit der Haut?), will ich eine Mutmaßung bestätigt finden (z.B.: eine abgebrochene Wimper), will ich mich schön gestalten (z.B. schminken oder kämmen), will ich prüfen, ob ich meinen Selbstbild entspreche (z.B. sehe ich so traurig aus, wie ich mich fühle?), ob ich meinem Idealbild entspreche (z.B. sehe ich so schön aus, wie ich sein möchte?) Letzteres bewegte bekanntlich die Stiefmutter von Schneewittchen. Sie litt wohl an einer ständigen Angst, dem Idealbild nicht zu entsprechen und befragte deshalb in zwanghafter Manie den Spiegel. Das äußere Erscheinungsbild muß offensichtlich ein inneres Minderwertigkeitsgefühl kompensieren, das um so peinlicher zutage tritt, als man sich mit einer anderen und zudem noch schöneren Person vergleichen muß. Bei der Prüfung nach seinem Idealbild sollte man tunlichst nicht kritisch sein und sich mit den Schönheitshelden dieser Welt vergleichen, da sonst die Enttäuschung nicht ausbleibt. Es empfiehlt sich, großzügig das im Spiegel zu sehen, was man sehen will. Ich kenne diesbezüglich ein selbstsicheres junges Mädchen, das beim Anblick ihres Spiegelbildes entzückt über ihre Schönheit ist. Glücklicherweise hat sie noch keine schöne Stieftochter (übrigens auch keine Schwester), mit deren Vorzügen sie konkurrieren müßte.

In dem Märchen Schneewittchen liefert der Spiegel kein Scheinbild, sondern eine Wahrheit, über die sich die Stiefmutter nicht hinwegtäuschen kann, nämlich, daß einmal der Zeitpunkt gekommen ist, wo die weibliche Schönheit anderen Qualitäten weichen muß, wo die Mutter hinter dem Reiz der jungen Tochter hintansteht. Solche Erfahrung ist schmerzlich, wenn der Selbstwert nur vom äußeren Erscheinungsbild abhängig ist.

Daß der Spiegel nur die äußere Hülle des Menschen zurückwirft, wird zumindest von Oscar Wilde bestritten. In seiner Geschichte Das Bildnis des Dorian Grey offenbart das Portrait eine Wahrheit, welche dem Schein ein Schnippchen schlägt. Während Dorian Grey jung und edelblickend bleibt, verändert sich das Portrait in Richtung seiner wahren charakterlichen Schändlichkeit. Ich spreche hier dem Portrait und dem Spiegelbild leichtsinnigerweise die gleiche Funktion zu. Sie ließe sich natürlich überzeugend mit dem Argument entkräften, daß das Werk eines Künstler weit besser geeignet ist, die seelischen Tiefen eines Menschen wiederzugeben als der Spiegel. Jedenfalls: Stiefmutters Spiegel und Dorian Greys Portrait sind unerbittlich wahrer als Wunsch der Originalpersonen. Zeihen wir dem Spiegel auf der einen Seite perspektivische Einseitigkeit, müssen wir ihm auf der anderen Seite rigorose Wahrheitstreue bescheinigen. Leonardo da Vinci sieht sogar im Spiegel ein Vorbild der Malerei, so daß eine vollkommen ausgeführte Malerei dem Spiegelbilde ähnlich sein muß.

So verhält es sich auch mit der Selbsterkenntnis: Sie kann dazu dienen, uns nur einen einseitigen Ausschnitt unserer Persönlichkeit zu vermitteln, oder auch dazu, uns ein schmerzliches Selbstbild zu entwerfen, das uns jeder Illusion beraubt. Zwischen Gnadenbild und Fratze können wir wählen.

Leider kann der Mensch nicht so frei wählen wie es den Anschein hat, weil ihn seine Charakterstruktur zu einer Wahl zwingt. Selbstunsichere prüfen ihr Spiegelbild oft und kritisch. Der Depressive mag nicht sein Spiegelbild. Es enthüllt ihm nur die Mängel seiner Erscheinung. Der Selbstsichere bestätigt sich gern in seinem Spiegelbild. Es beweist ihm seine Vortrefflichkeit. Der Zwanghafte spielt vor dem Spiegel mit Grimassen und will damit magisch seinem Gesicht einen bestechenden Ausdruck verleihen. Der Eitle sucht sich an seiner Schönheit zu erbauen. Alle diese Prüfungen im Spiegel sind nicht mehr ein Anliegen von rationalem Kenntnisgewinn, sondern ein Ausdruck von emotionaler Befangenheit.

Der griechische Jüngling Narzissos hat sich in sein Spiegelbild verliebt. Da er sich nicht auf den visuellen Genuß beschränken wollte, also sich nicht mit der perspektivischen Einseitigkeit begnügen wollte, ertrank er. Er wollte nämlich noch einen taktilen Genuß haben, und sein Spiegelbild umarmen. Der Spiegel büßt hier seine Funktion als Erkenntnisinstrument ein und dient der emotionalen Stimulierung.

so heißt es bei Ovid über Narcissus:

“Mein eigenes Bild ist´s. In Liebe brenn ich zu mir, errege und leide die Flammen. Was tu ich? Laß ich mich bitten? Bitt ich? Was sollte ich denn auch erbitten? Was ich begehre, ist an mir! Es läßt die Fülle mich darben. Könnt ich scheiden doch von meinem Liebe! O neuer Wunsch eines Liebenden: wäre – so wollt ich – fern, was ich liebe!”

Es ist die unglückliche Vereinigung zwischen dem Menschen und seinem Abbild, zwischen dem Subjekt und seinem Idealbild, zwischen dem Sein und dem Schein. Der Spiegel trennt nicht mehr, sondern verschmilzt, was im Bewußtsein nicht verschmolzen werden darf. Der Spiegel wird dort zu einem Verhängnis, wo seine Instrumentalität verkannt wird, wo er mit dem Sein verwechselt wird. Es ist, als ob der Schauspieler seine Rolle nicht mehr von seiner Persönlichkeit unterscheiden könnte. Das gespielte Bild muß immer noch willkürlich aufgelöst werden können, um eine wahnhafte Verwechslung zu vermeiden. Wird das Spiegelbild nicht mehr als Reflex von der Realität unterschieden, treten wahnhafte Verkennungen auf, wie manche psychodelischen Erfahrungen beweisen. Das Spiegelbild wird zu einem emotionalen Horrorszenarium. So kannte ich einen jungen Mann, der nach Haschischgenuß bei Betrachtung in den Spiegel nicht sich sah, sondern gräßliche Fratzen, die ihn in Angst und Schrecken versetzten. So mag auch der Schizophrene bei Introspektion dem schaurigen Wahn verfallen, daß der Gegenstand seiner Selbsterkenntnis nicht er selbst ist, sondern Dämonen, die in seinen Körper eingedrungen sind. Gegenüber diesen Horrorvisionen steht das zwar beglückende, aber dennoch wahnhafte, Erlebnis des manisch Kranken, der in sich die Allmacht Gottes wahrnimmt und in einen Glücksrausch über seine Gottgleichheit gerät. Spiegel und Introspektion in rein emotionaler Funktion unterliegen der Verkennung und Verblendung. Es gibt eine medizinische Hypothese, wonach der Beginn einer schizophrenen Erkrankung sich dadurch bemerkbar macht, daß das eigene Spiegelbild mit besonderem Argwohn betrachtet wird. Offensichtlich wird der Horror der Bewußtseinsspaltung durch eine veränderte Wahrnehmung des Spiegelbildes eingeleitet.

Das Spiegelbild, in dem sich Narzissos gesehen hat, besaß eine andere Qualität als normalerweise ein Spiegel zur Ansicht gibt. Denn Wasser reflektiert nicht nur die eigenen Bewegungen, sondern mischt mit seinen Wellen eine zusätzliche Bewegung hinein, die zuweilen gespenstisch wirken kann. Das reflektierte Gesicht scheint `mal abzutauchen, `mal aufzutauchen – zittert hin und her und versteckt sich in der ebenfalls zittrig bewegten Landschaft, die sich im Wasser spiegelt. Das Bild im Wasser gaukelt ein Eigenleben vor, das leicht als ein fremdes Wesen verkannt werden kann, das aus der Tiefe steigend plötzlich die Fratze eines Kobolds, eines Wassermannes oder einer Nixe sein kann, die den in seine Phantasie Versonnenen lockt, dem geheimnisvollen Bild in der Tiefe entgegenzutauchen. “Halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehen.” Es ist die Faszination von dem angedeuteten Geheimnis, das ergründet werden will, und wofür zuweilen, wie in den Märchen, wo bestimmte Türen nicht geöffnet werden dürfen, genau das Lebensrisiko eingegangen wird, vor dem jede vernünftige Stimme warnt. Übrigens gibt es eine ältere Version des Narziss-Mythos, in der Narcissos nicht an der Faszination seines eigenen Bildes zugrunde gegangen ist, sondern durch die Nixe Echo, die ihn aus der Tiefe zu sich gelockt hat. Echo und Spiegel erzeugen das gleiche Phänomen, nur in verschiedenen Sinnesmodalitäten. .

Die Erforschung eigener Seelentiefen mit Hilfe von bewußtseinsverändernden Drogen hängt mit diesem Sachverhalt zusammen. Das Geheimnis der Seele lockt. Sie zu ergründen greift der Verführbare zur Droge. Für manche gibt es keinen Halt mehr und sie versinken in jene Sucht, an welche die Droge, auch wenn sie der Selbsterkenntnis und der Bewußtseinserhellung dienen sollte, so nahe heranführt.

Zur einer Verzerrung der Erkenntnis führt der sogenannte Vexierspiegel, der eigens dazu dient, die Realität nicht in normalen sondern in verzerrten Proportionen abzubilden. Sie kennen den Effekt, wenn Sie vor einem Hohlspiegel stehen und Sie sich dick und klein wie ein Kloß oder dünn und lang wie eine Spaghetti sehen. Solch ein Spiegelkabinett dient dem Gelächter. Einen gewissen Ernst bekommt die Sache, wenn Sie warnend resümieren, daß Sie so dick nie werden wollen und Ihnen in dem Zerrspiegel ein Zukunftsbild entgegendroht. Vergleichbar ist der Zerrspiegel mit der paradoxen Intervention im therapeutischen Bereich, wo der Therapeut Sie auffordert genau das zu tun, was Sie sich abgewöhnen wollen. “Rechnen sie getrost damit, daß Sie in der nächsten Prüfung vor lauter Angst durchfallen werden”. In der Karikatur dient die Verzerrung der pointierten Charakterisierung. Markante Züge werden verstärkt und unterstreichen somit das vom Karikaturist empfundene Persönlichkeitsmerkmal. Auch solche verzerrten Selbstbekenntnisse gibt es: ein depressiver Klient klagt darüber, daß er in allem versage und übersieht geflissentlich jene Erfolge, bei denen andere Menschen froh wären, sie erreicht zu haben.

Hohlspiegel, die einerseits die visuelle Welt verzerren schaffen andererseits Brennpunkte, die zuweilen Gold wert sind. Hohlspiegel in der Astronomie bringen uns wertvolle Informationen über die fernen Galaxien, die unsere Wahrnehmung sonst nie erreichen würden. Hohlspiegel im kosmetischen Bereich bringen jeden kleinsten Krater der Haut ins kritische Visier der Dame. Brennpunkte erzeugen Erkenntnisse, vergleichbar der psychoanalytischen Deutungsmethode, bei der nur ein Versprecher tiefste Komplexe zutage fördert. Oder auch da könnte man von einem psychischen Brennpunkt sprechen, wo ganze Reihen traumatischer Kindheitserinnerungen sich in einem einzigen Begriff bündeln, bei dem die Satzmelodie einen Bruchteil der Sekunde unterbrochen ist.

Schon die Mykener und Etrusker kannten Konkavspiegel zur Vergrößerung des Antlitzes. Die Selbstbetrachtung zur Vergrößerung des Egos! Der Narzißt läßt grüßen! Der Konkavspiegel besitzt zudem die Eigenschaft, ab einer bestimmten Entfernung, nämlich außerhalb des Brennpunktes, alles auf den Kopf zu stellen und virtuelle Bilder vor der Spiegelfläche zu erzeugen. Dadurch ist plötzlich die Realität erheblich verfälscht. Aus Größensicht wird Größenwahn!

Umgekehrt wirken Konvexspiegel. Sie verkleinern und sind in vielen niederländischen Malereien angewandt worden, um aus einer bestimmten Ecke des Bildes jene Teile in Miniatur zu abzubilden, die aus der Perspektive des Betrachters nicht eingesehen werden können. So zeigt zum Beispiel in dem berühmten Bild Das Brautpaar Arnolfini von Johannes de Eyck ein kleiner rückwärts angebrachter sehr kleiner Spiegel zwei Zeugen des Geschehens, von denen einer der Maler selbst ist. Eine Betrachtung im Konvexspiegel verkleinert zwar die eigne Person, vergrößert aber den Blickwinkel der Räumlichkeit, in welcher man steht. Man bekommt somit einen besseren Eindruck von den Dimensionen, in denen man sich befindet. Dieser Effekt wurde ebenfalls von Malern der Renaissance ausgenützt, um große Räumlichkeiten abzubilden, welche das menschliche Auge nicht so gut erfassen konnte wie das Abbild im Konvexspiegel. Es wäre schön, wenn wir durch den Blick in solch einen Spiegel auch einen besseren Einblick in unsere Lebensdimensionen gewinnen könnten!

Später wurden die Konvexspiegel weiter zu glänzenden Kugeln gerundet und dienten als Zauberspiegel, die Informationen über Teile der Welt und der Zeit liefern sollten, die der Mensch sonst nicht Erfahrung bringen würde. Er verriet dem Seher verborgene Schätze, Ereignisse in der Zukunft und gegenwärtige Geschehnisse in anderen Erdteilen. Ein Aberglaube in Ungarn behauptet, wer sich am Gründonnerstag mit einem Spiegel auf ein Grab setzt und darin eine kleine Flamme sieht, wird im selben Jahr einen vergrabenen Schatz finden. Wenn Wahrsager charismatisch begabt sind, gestalten sie bei ihren Seancen eine geheimnisvolle Zeremonie mit einer glitzernden und spiegelnden Kugel, in der sie angeblich die Zukunft des Klienten sehen. Der Spiegel wird hier zum Symbol transzendenter Mitteilungen, welche jenseits der normalen Sinnesdaten Information vermitteln kann. Auch die Introspektion gewinnt eine transzendente Ausrichtung, wenn sie als Meditation betrieben wird. Es geht dabei um eine Innenschau, in der nicht die psychologischen Aspekte, sondern das wahre Ich, der unsterbliche Teil der Seele, der Purusha , wie die altindischen Veden es ausdrücken., offenbart werden soll.

In Barockschlössern werden Spiegel zur optischen Täuschung architektonisch eingesetzt. Die Spiegelsäle, meist im überschwenglichen Rokokostil, täuschen einen großen, zuweilen unendlichen Raum vor. Das Licht flutet zwischen den glitzernden Scheiben in unglaubliche Tiefen des Raumes, bis es im allerletzten Grund in einem dunklen Kosmos verdämmert. Glanz und Größe werden illusionistisch inszeniert, und da alle Spiegel noch in herrliche goldgeschwungene Rahmen eingefaßt sind, fühlt sich der Besucher in einen überirdischen und himmlischen Schimmer getaucht. Nicht Sein, sondern Schein wird angestrebt. Die Ästhetik lebt vom Schein. Der Welt die Köstlichkeiten des Scheins, die Illusion der Wahrnehmung, die Freiheit der Phantasie, die Aktion der künstlichen Neugestaltung abzutrotzen, ist das Anliegen der Kunst. Kunst ist das Vergnügen am Irrealen, an der Lüge und an der Täuschung.

(Kein Schauspiel entstünde, wenn der Mensch sich nicht verstellen, d, h, lügen könnte. Kein Bild entstünde, wenn der Mensch nicht angenehm affiziert wäre von der Illusion. Keine Musik würde entstehen, wenn der Mensch am Grunzen der Schweine und Zirpen der Grillen sein Genüge fände. Das ungeregelte in der Natur angelegte Lautgewirre in die Struktur von harmonischen Gesetzen, zeitlichen Abläufen und künstlichen Klänge zu zwingen, schafft Musik. Musik ist die Lüge am Lärm der Welt. Jedes Kunstwerk ist eine Lüge am Sosein der Natur.)

Und den Spiegel zu einem Kunstwerk zu erheben, war die Erfindung der Barockzeit. Nachklänge finden sich in Kaufhäusern, wo Spiegel an den Säulen oder Gängen die Illusion der Vergrößerung bewirken, nicht um ästhetisch zu genießen, sondern um die Größe des Warenangebotes imaginär zu erhöhen.

(Ich rannte einmal in in einen solchen Spiegel, weil ich in Bewunderung des langen vor mir sich öffnenden Ganges meine eigene mir entgegengehende Gestalt übersehen hatte. Ich nahm nur flüchtig wahr, daß mir jemand entgegenkam, daß aber diese Gestalt ich war, die mir penetrant entgegenschritt und mir absolut nicht ausweichen wollte, entging meinem sonst wachen Bewußtsein. Eine Beule an der Stirn lehrte mich, in Zukunft besser Illusion von Realität zu unterscheiden.)

Kann Introspektion zu einem Kunstwerk werden? Ich denke da an die Confessiones des hl. Augustin, der in fast mystischer Verzückung ein leidenschaftliches Liebesbekenntnis zu Gott niedergeschrieben hat, oder an die Confessions eines Jean Jacques Rousseau, der durch die schonungslose tausendseitenlangen Selbstergründung in einen begeisterten Rausch über die Einmaligkeit seines Wesens geraten ist.

“Ich unternehme hiermit eine Tat, die noch niemand unternommen, und deren Ausführung auch keinen Nachahmer finden wird. Ich werde meinen Zeitgenossen eine Menschen in der ganzen Wahrheit seiner Natur vorstellen und dieser Mensch bin ich. Ich allein. Ich fühle mein Herz und ich kenne die Menschen. Ich bin nicht von der Art wie einer von jenen, die ich kenne. Ja ich wage zu behaupten, daß ich in keinerlei Art irgend jemandem von denen gleiche, die existieren. ”

Wenn heutzutage jemand in eine Psychotherapiegruppe geht, dann hilft ihm häufig die Erfahrung, daß er nicht einmalig mit seinen Problemen steht, sondern daß er sie mit einer Anzahl anderer Personen teilt.

Ein phantastisches Zerrbild der Wirklichkeit liefert das Spiegelkabinett, das als Labyrinth angelegt ist. Es handelt sich um schmale Gänge, die von allen Seiten mit Spiegeln belegt sind. Wer da drinnen ist, verliert jeden räumlichen Bezug. Da sich Himmel und Erde, und jede Seite ins Unendlich verläuft, zudem man nur sich von allen Seiten wiedersieht, kann man sich nur noch mit Tasten vorwärts bewegen und würde wahrscheinlich, wenn man nicht felsenfest wüßte, daß es sich um einen zeitlich begrenzten Spaß handelt, schneller wahnsinnig werden, als jede halluzinogene Droge es schaffen würde. Man hat in solch einem Kabinett den Eindruck als schwebe man mitten in einem unbegrenzten Raum, dessen Koordinaten allein durch die unendliche Aneinandereihung der eigenen Person gegeben sind. Wie aber kann ich mich orientieren, wenn ich nur mich sehe? Vielleicht wird hier das Phänomen simuliert, das der Autist erlebt, der auch nur sich wahrnimmt und deshalb bei jeder Veränderung der Umwelt in höllische Angst ausbricht, weil er die Orientierung verliert, die er nur mit größter Mühsal stereotyper Handlungen aufrechterhalten kann. In weniger krankhaften Form wirkt das Spiegelbild irritierend, wenn es die normale Sicht blendet. Statt den anderen zu sehen, sehe ich mich, weil das Glas seiner Durchsichtigkeit zum Trotz spiegelt. Es ist wie wenn der Neurotiker ständig von seinen Ängsten geplagt würde, statt einen feine Kontakt zum Mitmenschen zu pflegen. Seine sensible Innerlichkeit drängt sich penetrant ins Bewußtsein, wo eigentlich andern von außen kommenden Eindrücken der Vorzug geben werden sollte.

In Andersens Märchen Die Schneekönigin zerbricht den teuflischen Kobolden der Spiegel, “der die Eigenschaft besaß, alles Gute und Schöne, Edle und Vortreffliche, das sich darin spiegelt, in Nichts zusammenschrumpfen zu lassen, während das, was nichts taugte, das Schlechte, Böse und Unschöne, darin besonders hervortrat und sich noch vergrößerte. Die herrlichsten Landschaften sahen darin wie gekochter Spinat aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopf; die Gesichter verzerrten und verdrehten sich so, daß sie kaum zu erkennen waren, und hatte man eine einzige Sommersprosse, dann nahm sie sich aus, als bedeckte sie Mund, Stirn und Nase.”

Der Spiegel nimmt hier eine geradezu teuflische Funktion ein. Er filtert gewissermaßen alles Gute aus und reflektiert das Schlechte. Solche Sichtweise gibt es natürlich unter Menschen. Wer in den Dingen nur das Negative sieht, wird auch sich hassen und kaum etwas Gutes in sich entdecken. Eine Methode der kognitiven Verhaltenstherapie besteht darin, gezielt eine andere Sichtweise einzunehmen als die, welche sich durch das eigene negative Vorurteil ergibt.

Wie sehr der Spiegel mit der Selbsterkenntnis zusammenhängt, zeigt die Entwicklung des Bewußtseins. Vögel erkennen sich nicht im Spiegel. Sie glauben, einen Rivalen zu erblicken und attackieren ihn mit entsprechender Vehemenz. Hunde ignorieren den Spiegel und behandeln ihn wie jeden anderen Gegenstand als Hindernis, das zu umgehen ist. Keinen Blick werfen sie in ihn hinein, um penetrant jeder Selbsterkenntnis aus dem Wege zu gehen. Für sie ist nur jener Gegenstand von vitalem Interesse, der riecht. Und das Spiegelbild riecht nun mal nicht. Demzufolge reagiert der Hund auch nicht auf das Spiegelbild seines Herrchens. Erst die Intelligenz von Menschenaffen erfaßt das Wesen des Spiegels. Man hatte Affen während einer Betäubung das Gesicht angemalt. Als sich die Affen nach Erwachen im Spiegel betrachteten, erschraken sie sehr über die Fremdartigkeit ihres Aussehens. Kinder gewahren das Spiegelbild ab 6. oder 7. Monat. Sie staunen das Gesicht an oder lächeln es an wie sie zu jener Zeit jedes Gesicht anzulächeln pflegen. Gewöhnlich sehen sie sich im Arm ihrer Mutter, so daß sie das Gesicht von der Mutter und sich gleichzeitig im Spiegel sehen. Es mag sein, daß die Mutter auf das kleine Gesicht hinweist und es mit dem Namen des Kindes benennt, das sie auf dem Arm hält, so daß das Sehen des Spiegelbildes mit der Hören des eigenen Namens zusammenfällt. Bedeutender scheint mir aber die synästhetische Übertragung zu sein, welche es dem Kind ermöglicht, sein Spiegelbild zu erkennen. Das ist folgendermaßen zu verstehen: Wen sich das Kind bewegt, nimmt es seine Bewegungen mit einem kinästhetischen Sinn wahr, nicht mit dem visuellen, denn es schaut sich ja nicht seinen Bewegungen an. Wenn es aber in den Spiegel schaut, nimmt es seine Bewegungen tatsächlich visuell wahr. Es gibt eine angeborene psychische Fähigkeit, die Eindrücke auf verschienenen Sinnesmodalitäten miteinander zu vergleichen oder nachzuahmen. Nur durch diesen Vergleich von visueller zu kinästhetischer Sinneserfahrung kann das Kind den Schluß zie

hen, daß das Bild im Spiegel das Bild seines eigenen Körpers ist. Auf ähnliche Weise überträgt das Kind zum Beispiel die akustischen Lautgebilde der Muttersprache in die motorische Artikulation des Mund-Rachenraumes. Ohne diese synästhetischen Transformationen wäre das Erlernen der Sprache und das Erkennen des eigenen Spiegelbildes nicht möglich. Nahtlos geht die Betrachtung des Spiegelbildes mit dem Experimentieren einher: Das Kind schaut und greift hinter den Spiegel, weil es die räumliche Tiefe nachprüfen will, die der Spiegel vorgaukelt. Es lernt am Spiegel den Unterschied zwischen Realität und optischer Täuschung und lernt durch ihn das erste Verfahren zur Selbsterkenntnis kennen. Das Grimassenschneiden vor dem Spiegel und das Aufsetzen von Masken mit anschließendem Blick in den Spiegel sind die charakteristischen Selbststudien des Kindes. Der französische Psychoanalytiker Lacan kennzeichnet sogar diese Kindheitsphase mit dem Begriff Spiegelalter, darauf hinweisend, daß der Anblick des eigenen Spiegelbildes eine Faszination ausübt, die über eine bloße Darstellung seines Aussehens hinausgeht. Das Kind, und weiterführend jeder Mensch, ist nicht mit der Illusion abgesättigt, sondern gebraucht den Spiegel fortan zur Kontrolle seiner Existenz, seiner inneren wie äußeren gleichermaßen. Der Spiegel wird zum Instrument der Selbsterkenntnis. In Anlehnung an Descartes ließe sich überzeugend formulieren: “recognosco, ergo sum” (ich erkenne, also bin ich). Die Libido hat ab dem Stadium der ersten Selbstwahrnehmung zwei Welten zu besetzen: die eigene Welt als Inbegriff aller Subjektivität und die Welt außerhalb des Ichs, als Summe aller objektiven Erscheinungen.

Bewußtsein ist Spiegelung äußerer Welt in unserem Innern. Die Natur selbst hat sich das Spiegeln zum Prinzip gemacht: Denn alles, was die Natur hervorbringt, beruht auf dem Prinzip der Verdoppelung. Denken Sie an die Doppelhelix, an die Zellteilung, die in identischer Wiederholung des Objektes eine quantitative Vermehrung schafft. Der Übergang von dem biologischen Gesetz zur Ästhetik ergibt sich in der Formgestaltung der Lebewesen. Sie sind durchwegs symmetrisch strukturiert. Pflanzen besitzen eine ornamentale Spiegelachse, d.h. daß die Einzelteile rund um eine Achse angeordnet sind. Um den Stil ranken sich radial die Blätter, um den Blütenkelch die Blütenblätter. Vielleicht schwebt ihnen ein Gänseblümchen vor oder eine Palme mit ihren achsensymmetrischen Anordnungen. Tiere sind spiegelbildlich angeordnet. Sie besitzen in ihrer Frontalansicht zwei gleiche Hälften. Es gibt kaum ein Lebewesen, das nicht eine Spiegelachse hätte. Die spiegelbildliche Symmetrie ist geradezu ein ästhetisches Faktum, das schwer in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn es nicht befolgt wird. Die eindrucksvolle Häßlichkeit von Masken beruht auf ihrer Asymmetrie der Gesichtszüge. Je schöner ein Gesicht wirken soll, desto akribischer muß man auf seine spiegelbildliche Symmetrie achten. Jeden schiefgebauten Menschen bedauern wir nicht nur in Empathie seiner Funktionsstörung, sondern auch in Anbetracht seiner ästhetischen Einbuße. Ebenfalls werden technische Produkte symmetrisch gebaut, einerseits den physikalischen Gesetzen von Reibung, Stromlinien usw. gerecht zu werden, andererseits dem ästhetischen Empfinden zu gehorchen. Ein Auto und ein Flugzeug schauen von vorne ganz gut aus, weil sie – wie das menschliche Gesicht – zwei gleiche Hälften zeigen. Auch unsere zwei Gehirnhälften haben nicht nur eine kompensatorische Funktion, indem die rechte die synthetischen, assoziativen und künstlerischen Prozesse steuern, die linke die logischen analytischen und sprachlichen, sondern auch eine spiegelbildliche, indem die rechten und linke n Kö

rperfunktionen in ihnen gelenkt und repräsentiert werden.

Der Spiegel erweitert unser Geschichtsfeld: Wir können nach hinten schauen, während das Gesicht nach vorne gerichtet ist. Jeder Autofahrer macht von diesem Vorteil Gebrauch. Der Rückspiegel schenkt uns gewissermaßen Augen im Hinterkopf. Die allzeitige Gegenwärtigkeit des Spiegelbildes erfährt je nach Sichtweise eine Auflösung zur Vergangenheit. Ich sehe ja nicht nur, was sich im Augenblick hinter mir befindet, sondern auch das, was ich eben hinter mich gelassen und verlassen habe. Fahre ich zum Beispiel die Autobahn von Garmisch nach München, sehe ich noch lange im Rückspiegel die immer mehr zurückweichenden und kleiner werdenden Alpen, in denen ich vor einer halben, einer Stunde und länger war. Bei der Selbsterkenntnis spielt dieses Rückwärtsschauen eine große Rolle, insofern Erinnerungen aus der Vergangenheit mit gegenwärtigen Erlebensweisen in Beziehung gesetzt werden. Aber nicht immer ist der Rückblick heilsam. Orpheus verlor Euridike, als er zu ihr zurückblickte und Lots Frau wurde zur Steinsäule. Zuweilen ist das Voranschreiten und Vorausschauen wichtiger als das Zurückblicken, d.h. die progressive Funktion der Analyse sinnvoller als retrospektive. Auch der griechische Held Perseus nutzte den Spiegel als Rückspiegel, um sich Medusa, der Schreckgestalt, nähern zu können. Denn sie sah so scheußlich aus, daß jeder, der ihrer ansichtig wurde, zu Stein erstarrte. Um Perseus vor solchem Schicksal zu bewahren, schenkte ihm Athene den Spiegel, mit dem er sich Medusa gefahrlos nähern konnte. Die Interpretation der Enthauptung der Medusa läuft darauf hinaus, daß Perseus das negative Mutterbild vernichten muß, um reif für die Vermählung mit Andromeda zu werden. Was sich als objektive Gestalt manifestiert, existiert korrelativ als Bewußtseinsinhalt. Demnach sieht Perseus im Spiegel sowohl Medusa als auch sein inneres Bild von weiblicher Schreckgestalt. Spiegelbild und innerer Schatten fallen hier zusammen. Gegebenenfalls ist es notwendig, einen psychischen Komplex, besonders, wenn er gefährlich negat ive

Seiten aufweist, nicht direkt anzugehen, sondern mit genügender Vorsicht deutend und indirekt zu bearbeiten. Die brüske Konfrontation mit den eigenen Abgründen tut dem Analysanden nicht gut. Methodisch geht der Analytiker schonend vor, die schweren Komplexe aufzudecken. Bei der Selbstanalyse stellt sich das rechte Maß der Aufdeckung automatisch ein, insofern die eigenen Abwehrmechanismen nur so viel zulassen, als die Seele verträgt. Die Indirektheit des Spiegels kann verglichen werden mit der Methode der Assoziation, durch welche man erst auf Umwegen sich dem Kern der Problematik nähert. Die direkte Konfrontation mit dem Problem sollte ebenso vermieden werden wie die frontale Gegenüberstellung von Perseus und Medusa.

Noch einen Aspekt liefert der Mythos für die Interpretation: Der Spiegel kann jemanden vor vor dem bösen Blick eines anderen verschonen. Genügende Selbstsicherheit durch richtige Introspektion schützt vor den Beleidigungen anderer.

(Auch zum heimlichen Beobachten anderer Personen ohne frontalen Kontakt bietet der Spiegel seine Hilfe an. Es gibt Personen, die spiegelnde Sonnenbrillen tragen, um andere beobachten zu können ohne selbst dabei entlarvt zu werden. Andere Voyeure haben Fensterspiegel angebracht um aus versteckten Positionen anderer Leute Treiben beobachten zu können. Der Beobachtete empfindet dieses immer als unwürdige Verhalten, weil er zu einem Objekt der Beobachtung mißbraucht wird, anstatt gleichberechtigter Partner einer Kommunikation zu sein, bei der die Augen des Partners gesehen werden können. Denn die Augen übertragen wichtige nonverbale Informationen, weshalb sie im Volksmund der Spiegel der Seele genannt werden.

Zuweilen entzieht sich der Spiegel jeden Nutzens, indem er bloß blendet. Übertragenermaßen blendet uns die Selbstbetrachtung, wenn wir unserer äußeren Hülle mehr Gewicht beimessen als ihr gebührt. Solche eitle Selbstbespiegelung ist Gegenstand in Puccinis Oper, wo Manon Lesceaus eitle Spiegelbetrachtung zu einer Fluchtverzögerung führt, die sie schließlich in die Hände der Polizei treibt. Sie wird gefangen genommen und nach Amerika deportiert.)

In ägyptischen Gräbern um 2000 v.Chr. sind die ersten Spiegel aus Kupfer, Bronze und Silber gefunden worden. Im 7. Jahrhundert v.Chr. gab es bei den Römern schon kleine Glasspiegel. Spätestens seit Ludwig dem Vierzehnten besteht ein guter Spiegel aus Glas. Schauen wir durch eine Glasscheibe, sehen wir bei geeignetem Licht die realen Gegebenheiten jenseits des Glases. Je mehr die Rückseite der Glasscheibe verdunkelt wird, desto mehr spiegelt sie. Der Übergang von Realität zu optischer Täuschung ist fließend. Nur eine Beschaffenheit des Glases, nämlich seine Lichtdurchlässigkeit bestimmt, ob wir objektive oder subjektive Gegebenheiten wahrnehmen, anders ausgedrückt, ob es sich um Fremd- oder Selbstwahrnehmung handelt. Gleichermaßen beruht die Extraspektion und Introspektion auf dem Prinzip der psychologischen Menschenkenntnis, allein die Blickrichtung ändert sich, entweder nach außen gerichtet oder nach innen gerichtet. Im Märchen von Schneewittchen wirft der Spiegel das Bild nur für die egoistische Selbstbeobachtung der stolzen Königin zurück, während der Glassarg in dem Schneewittchen liegt, das Bild ihrer Schönheit nach außen zur Beglückung anderer Menschen strahlt. Spiegel und Glasscheibe verhalten sich wie Selbstbetrachtung und Fremdbetrachtung. Nur durch die fortwährende Anwendung beiderlei Blickrichtung schreitet der Mensch weiter in seiner sozialen Reife.