Interpretation des Märchens “Hans im Glück”

Beim ersten Hören oder Erinnern des Märchens fallen spontan zwei Verstehensweisen auf: die eine positive, nach der Hans im Glück zu jenen gutherzigen Menschen gehört, die jedem Ereignis etwas Wertvolles  abgewinnen können und die andere negative, nach der es nicht gelingt, das einmal Errungene sinnvoll zu verwerten. Nach diesen zwei gegensätzlichen Bewertungen richtet sich dann auch die Interpretation. Je nachdem, welchem Menschen wir mit dem Märchen eine therapeutische Hilfe anbieten wollen, wird sich das Gespräch um diese oder jene Auffassung drehen. Haben wir jemanden vor uns, der immer alles festhalten muß, der nicht mutig  genug ist, mißliche Situationen zu überwinden, der nicht flexibel genug ist, alte Vorstellungen neu zu gestalten, oder der an Ideologien verbissen festhält, in der Meinung, nur durch hartnäckiges Beharren  die Lebensanforderungen zu meistern, dem tut es gut, an Hans im Glück die selige Fähigkeit abzuschauen, daß alles Neue nicht nur weiter führt, sondern daß gerade im fröhlichen Loslassen die Chance  besteht, neues Glück zu erfahren. Äußerlich gesehen mag Hans im Glück immer weniger Güter zu besitzen, bis er mit leeren Händen wieder in sein Heim zurückkehrt, spirituelle gesehen aber eröffnet sich ihm eine neue Dimension der Lebenserfahrung: alle Materie ist leztendlich nur Balast, und der höchste innerliche Friede kann nur  dann erreicht werden, wenn der äußere Besizt, bzw. die Lust  an ihm auf Null zusammengeschrumpft ist. Dennoch bleibt zu fragen, was denn das Heim bedeute, in dem die Mutter auf ihn wartet. Sinnvollerweise müßte man auch hier in die spirituelle Dimension eintauchen, indem die Mutter als Mutter Natur oder mütterliche Göttin gesehen wird, und der Heimgang als das verstanden wird, was man von einem Hingeschiedenden sagt, nämlich, daß er “heimgegangen” sei. Die Tiere und Gegenstände, die Hans im Glück nacheinander auswechselt, stellen demnach verschiedene Epochen oder Seinszustände seiner Wanderung dar: Der Goldklumpen wäre als Symbol seines Selbstes zu verstehen, das nun in den Dienst der spirituellen Reifung gestellt wird. Mit dem Pferd beginnt die Epoche, in der Hans seine Triebnatur zu zügeln lernen muß, mit der Kuh diejenige, die ihn mit dem Erwerb irdischer nahrungsabhängiger Lebensexistenz verbindet, mit dem Schwein die Art, Zufälle und Glück des Lebens anzunehmen, mit der Gans die geistige Sphäre zu schulen und mit den Steinen den harten Kern seines Selbstes durch Arbeit zu läutern. Wenn das alles geschafftt ist, dann kann er sich am Brunnen seiner seelischen Energiequellen ausruhen, um schließlich mit dem höchsten Gefühl der Glückseligkeit zu seiner Gottheit heimzugehen.

Gegen diese idealisierende Interpretation ist der Einwand nicht von der Hand zu weisen, daß Hans im Glück ja nicht eigentlich das Pferd zu reiten lernt, sondern gleich nach dem ersten Sturz die Reiterei aufgibt, um das Pferd in eine Kuh zu wechseln, deren nachrungsspendende Funktion er ebenfalls nicht auskostet, sondern ohne auch nur einen Tropfen Milch gewonnen zu haben, schon aus lauter Verdrießlichkeit die Kuh in ein Schwein vertauscht. Auch dieses schlachtet er nicht,  um in den Genuß eines Festes  mit all seinem Saus und Braus und seinem eventuelle zu erheischenden   Glück zu kommen, sondern läßt sich schnell zu einem schlechten Handel übertölpeln, der ihm  die Gans als wertvoller vorgaukelt als sie in Wirklichkeit ist. Allmählich ist es auch nicht mehr das Mißgeschick mit den Tieren, das ihn zum weiteren Tausch veranlaßt, sondern die dümmliche Leichtgläubigkeit jenen gegenüber, die ihn offensichtlich betrügen. Am Ende der Geschichte hat er also nichts. Zurück zur Mutter ist die einzige Überlebenschance, die ihm noch winkt.

Das Märchen stellt sich in der negativen Interpretation als ein umgekehrter, gleichsam zurücklaufender Individuationsprozeß dar, anstatt zu reifen, fällt der Held allmählich in den infantilen Zustand des besitzlosen und an der Mutter hängenden Kindes. Er ist vollends regrediert. Dazu paßt auch die Einstellung, sich des Eigentums sofort zu entledigen, sobald es nicht mehr dienlich oder gar lästig ist. Wie ein Kleinkind von Augenblick zu Augenblick und von Spiellust zu Spiellust wechselt, so auch Hans im Glück. Nichts treibt ihn an, das Gut unter Einsatz von Mühen zu behalten oder damit etwas zu verdienen. Das Pfund, das ihm anvertraut ist, nutzt er nicht, sondern vergeudet es im Leichtsinn. Selbst nach der Gleichnislehre Jesu hat Hans im Glück gegen seine Bestimmung gesündigt.  Das Glück ist darnach nur ironisch zu verstehen  in Bezug auf die Unbedarftheit des Antihelden, der nicht einmal bemerkt, wie er im Leben versagt. Er vermag nicht  das Gold als Pfand seines seelischen Reife und Vollkommenheit zu behalten, er lernt nicht zu reiten, um auf seinem Lebenswege weiterzu kommen, er lernt die Kuh nicht zu melken, um sich Nahrung zu beschafffen, er lernt nicht das Schwein zu schlachten, um Nutzen aus den Gegebenheiten zu ziehen, er lernt nicht die Gans zu füttern, um an ihrem symbolhaft geisteigen Höhenflug teilzuhaben und er lernt nicht den Wetzstein zu gebrauchen, um mit ihm seinen Lebensunterhalt zu verdienen.  Die Gegenstände, mit denen Hans im Glück bestückt wird,  können auch in negativer Interpretation die gleiche symbolische Deutung erfahren wie in der positiv spirituellen.

Es gibt vielleicht eine Verbindung von der negativen zur positiven Interpretation: Es ist der Hinweis auf die Paradoxie des Religiösen: was niedrig ist, wird erhöht, was klein ist, wird groß, was gering ist, wird mächtig, was krumm ist, wird gerade. Es ist das Rätsel um das heilige Kind, das gerade, weil es unscheinbar, klein, hilflos und unselbständig ist, das Größte genannt wird, weil in ihm der Keim zur volkommenen Entfaltung angelegt ist. Oder es ist das Geheimnis des Einsiedlers, der alle Güter der Welt aufgegeben hat, um sich in den regressiven Zustand eines Höhlenbewohners zu begeben, sich quasi zurück in einen  natürlichen Erdschoß begeben hat, um die Seligkeit durch seine Weltentrückung zu erfahren. Oder es ist die Gelassenheit des Heiligen, der in  jedem Schicksal das ihm zugedachte Los erblickt, selbst wenn er nach und nach alles verliert. Er hadert dann  nicht wie Hiob, sondern dankt Gott wie der hl. Ambrosius, daß er für den Herrn Qualen erdulen darf.

Welche Sichtweise des Märchens angebracht ist, entscheidet letzlich jeder Hörer selbst. Er darf sich dann  selbstkritisch fragen, ob er entweder  tölpelhaft wie Hans die Gaben seines Schicksals vernachlässigt und verspielt oder ob er einer Ermuntertung bedarf, endlich das loszulassen, was ihn immer wieder konfliktuös belastet.